Archiv für den Monat März 2018

Auf den Spuren von Marie Madeleine – Teil 1

Standard

Viele Jahre lang bin ich auf den Spuren von Marie Madeleine unterwegs gewesen und erst heute überkommt mich der Wunsch, darüber zu schreiben. Es trug sich zu vor vielen Jahren, da wollte ich nach Rom gehen, nachdem ich schon mal nach Santiago de Compostela mit dem Fahrrad gefahren war. Nicht dass ich katholisch gewesen wäre, aber Rom ist doch nach Santiago der zweite klassische Pilgerort eines gläubigen Menschen, der sich in der Nachfolge Jesu sieht. Ich fuhr damals bis Lausanne und fuhr mit dem Boot nach Montreux, um dort anzufangen zu laufen. Ich lief drei Tage in jenem Oktober; es war noch schön warm tagsüber und ich hatte zeitweise nur ein T-Shirt an. Doch ich war als Pilgerin ganz alleine auf weiter Flur. So alleine sollte ich bis nach Rom wandern?

Nach drei Tagen wurde es plötzlich empindlich kalt, als ich morgens aufstand. Ich hatte zum Glück in weiser Voraussicht eine Mütze, sowie Schal und Handschuhe einstecken und die brauchte ich auch, um mich an die nächste Straßenecke zu stellen und nach Frankreich zu trampen.  Nach wenigen Minuten hielt ein Paar an, das nach Lyon fuhr. Hurra, ich war gerettet! Dort war es nämliich schon viel weniger kalt. Von Lyon aus, wo ich drei Tage blieb, versuchte ich dann doch wieder auf den Jakobsweg in Richtung Spanien zu gelangen. Dort waren immer Leute unterwegs. Denn Fahrradfahren konnte ich ganz alleine ohne Probleme, aber sobald ich lief, brauchte ich den Austasuch mit anderen Menschen, zumindest am Abend. So trampte ich weiter und fuhr dann am Abend manchmal noch ein Stück weiter mit dem Zug in die nächste Stadt, in der ich in einer Jugendherberge schlafen konnte. So gelangte ich irgendwann nach St. Jean Pied de Port, da wo der sogenannte französische Weg losging.  Doch irgendwie merkte ich, es sollte nicht sein, dass ich jetzt nach Spanien ging. So schloss ich mich einem Deutschen an, der gerade zurücklief. Er hatte auf dem Hinweg nette Leute kennengelenrt, die er gerne besuchen wollte. Ganze drei Tage lief ich mit ihm. An einem der drei Tage übernachteten wir in einer Kirche, weil es zu der Jahreszeit keine Herberge mehr gab, die offen hatte. Wir hatten dort noch einen dritten Pilger getroffen, der von Vezelay aus gekommen war. Er war von diesem Weg begeistert gewesen, da er noch ziemlich ursprünglich war und er viel bei Leuten eingeladen worden war, weil es dort nicht überall Unterkünfte gab. Ich entdeckte damals in diesen Tagen, dass die Mülltonnen der Supermärkte überquollen und dass ich mich davon ernähren konnte. Das kam mir sehr entgegen, denn ich wusste, in wenigen Wochen würde das Einkommen aufhören, das ich bis dahin gehabt hatte. Denn ich wusste, ich würde nicht nach Deutschland zurückkehren.

Danach landete ich in Lourdes, das ich von meinem ersten Jakobsweg auf dem Fahrrad her kannte. Und dort wurde es auf einmal kalt. Genauer gesagt vier Grad. Es war Anfang November. Die Leute dort sagten: „Sie müssen woanders hinfahren. Hier ist nicht die Cote d’azur!“ Ich lernte jemanden mit einem Auto kennen, der mich erst bei ein paar Schwestern unterbrachte und mich dann einlud, mit ihm nach Avignon zu kommen. Ich sagte ja. Und so kam ich nach Avignon, wo ich bei einer seiner Bekannten unterkam. Avignon mochte ich nicht und so versuchte ich fast täglich abzuhauen, aber es gelang mir irgendwie nicht. Mir erzählte dann jemand, er hätte seit er dort ist lauter Unglück. War irgendwie nicht sehr vertrauenserweckend. Auch von anderen Leuten hörte ich später, sie hätten Unglück gehabt, als sie in oder bei Avignon waren, ob per Zug oder mit dem Auto. Ich fragte mich immer, was mit der Stadt ist, was mit ihr war, warum sie einen solch negativen Eindruck auf mich machte, schon seitdem ich das erste mal mit dem Fahrrad dort war. Da hatte ich angesichts der vielen Besucher des Papstpalastes die Flucht ergriffen. Ich stellte innerhalb vieler Jahre der Recherchen fest, was es war, das mich an Avignon so unglaublich störte, dass ich immer weg wollte: es war die schwarze Magie, die in dieser Stadt wohl sehr viel praktiziert wurde. Das ist die Energie von Avignon. Schwarze Magie. Und deshalb machte ich in der Folge immer einen gro0en Bogen um die Stadt.

Umso glücklicher war ich, als ich dann endlich wegkam. Über die Antillen mit Besuch eines Klosters fuhr ich zu einem Konvent von Klosterbrüdern in der Nähe von Arles. Dort war ich auch bei meiner Fahrradpilgertour vorbeigekommen und ich wollte gerne mit dem dortigen Bruder, der deutsch sprach reden. Von dort aus wollte ich nach Saintes Maries de la Mer zu fahren, wo zwei Marien damals nach dem Tod von Jesus angekommen sein sollten. Ich wollte dorthin trampen. Doch dann hielt ein Mann an, der von Emmaus kam. „Wo wollen sie hin?“ fragte er mich. „Nach Saintes Marie de la Mer.“

„Ich fahre nach Marseille. Ich kann sie mitnehmen.“ „Ich wollte zwar in die andere Richtung, aber ich fahre mit“. So kam ich nach Marseille. Was er genau sagte, weiß ich nicht mehr . Aber es war enorm aufbauend. Er fuhr mit mir durch die Stadt und spielte ein wenig den Stadtführer, lud mich in sein Lieblingsrestaurant zum Essen ein und zeigte mir die wunderschönen Calanque, die Felsen am Meer. Ich blieb nur ein paar Tage in Marseille, dann entdeckte ich einen Bus, auf dem Aix-en-Provence stand. In Aix-en-Provence war ich mit siebzehn Jahren einmal auf dem Motorrad durchgefahren und hatte mich sofort Zuhause gefühlt. So stieg ich in den Bus ein. Er brachte mich nach Aix-en-Provence, wo Marie Madeleine zehn Jahre gelebt haben soll…

Hier möchte ich nun einen Text anfügen, den ich aktuell gefunden habe, als ich auf der Suche nach einem Bild von Maria Magdalena war,  bevor es ein andermal weitergeht im Text:

Judas und der gute Hirt

(Bildmeditation über ein Säulenkapitell in der Kathedrale Sainte Marie-Madeleine, Vézelay)

Es gibt viele Bilder vom guten Hirten. Vor allem in Kinderbibeln finden wir Darstellungen, die zeigen, mit wieviel Freude der gute Hirt das verlorene Schaf nach Hause trägt.

Jesus selbst bezeichnet sich als den guten Hirten, der uns Menschen nachgeht. Auch dort, wo wir auf dem falschen Weg sind und in die Irre laufen.

Gibt es für den Hirten eine Grenze? Sagt er irgendwann:

„Bis hierher geh ich – und keinen Schritt weiter?“

In Vézelay, einem Ort in Burgund, findet sich in der dortigen Kathedrale Sainte Marie-Madeleine (12. Jahrhundert) ein Säulenkapitell mit einer Darstellung, die einzigartig und beeindruckend ist.

„Judas und der gute Hirt“ könnte das Bild heißen.

Es besteht aus zwei Szenen.

Auf der einen Seite sieht man Judas mit aufgerissenen Augen und weit heraushängender Zunge, verzweifelt, hilf- und wehrlos am Strick an einem Baum hängen. Er hat sich – ver-strickt in seine Schuld – umgebracht. Er wusste nicht mehr aus und ein. Er hat seinem Leben aus lauter Verzweiflung ein Ende gemacht.

Auf der anderen Seite des Kapitells sieht man, wie jemand den toten Judas vom Baum genommen, von seinen Ver-strickungen befreit und auf seine Schultern gelegt hat. Nun trägt er ihn – wie ein Hirt das verletzte oder verlorene Schaf – und bringt ihn nach Hause.

Kein Zweifel, der Hirt ist der auferstandene Christus, der der den toten Judas aufnimmt, ihn heimholt und annimmt.

Was für eine Botschaft erzählt dieses über 800 Jahre alte Steinrelief?

Welch revolutionäre Sicht des unbekannten Steinmetz von Vézelay, der in großer künstlerischer und gläubiger Freiheit die tragische Judasgeschichte radikal weiter- und zu Ende gedacht hat?

Das Judaskapitell von Vézelay ist zweifellos ein starkes, ein faszinierendes Bild.

Eindrucksvoller lässt sich die grenzenlose Barmherzigkeit Gottes nicht darstellen.

Mit seiner Botschaft – in Stein gemeißelt – trifft es mitten hinein ins Zentrum der biblischen, der christlichen Verkündigung.

Christus gibt Judas nicht auf. Er lässt ihn nicht hängen.

Er löst ihn aus seinen Ver-strickungen. Er legt ihn sich selber auf und trägt ihn. Es ist fast wie eine Umarmung, ein Umfangen.

Was für eine Liebe! Welch großes Erbarmen und Verzeihen!

Doch ist Judas nicht der, der den unschuldigen Jesus verraten und verkauft hat? Hat er ihn nicht für dreißig Silberlinge ans Messer geliefert hat? Hat er nicht den Sohn Gottes auf dem Gewissen?

Warum hat er das getan? Geldgier, Neid, Enttäuschung…?

Durch alle Jahrhunderte hat Judas die Gemüter bewegt. Bis heute wird viel über seine Beweggründe diskutiert.

Warum auch immer er das getan hat, fest steht, dass er Jesus mit einem Kuss verraten und an seine Feinde ausgeliefert hat.

Ist Judas nicht das Paradebeispiel von Bösartigkeit?

Ist er nicht der Inbegriff von Versagen und Schuld?

Eine unvorstellbar große Schuld, von der viele oft gemeint haben, sie könne unmöglich vergeben werden.

Für die Menschen des Mittelalters war klar: Auf Judas wartet die ewige Verdammnis.

Und dieser Judas wird nun von Jesus vom Strick genommen und – wie das verlorene Schaf – nach Hause getragen?

Kann das sein? Ist das nicht höchst anstößig und provozierend?

Gnade für Judas? Kann es das geben?

Hat nicht der Teufel Judas in seinen Besitz genommen?

Geht die Gnade und Liebe Gottes wirklich so weit, dass sie selbst Judas erreicht?

Schenkt Gott in seiner unermesslichen Barmherzigkeit sogar ihm eine Möglichkeit zu Rettung, Heil und Leben?

Die Darstellung in der Kathedrale von Vézelay von Judas und dem guten Hirten ist Ausdruck der tiefen gläubigen Überzeugung, dass die Liebe Gottes wirklich unvorstellbar groß ist, größer als jedes Versagen, größer als alle Schuld, stärker als alle Sünden.

Im ersten Johannesbrief steht das Wort: „Klagt uns unser Herz auch an, Gott ist größer und er weiß alles.“ (1 Joh 3, 20)

Gott ist größer. Seine Liebe ist größer. Gottes Barmherzigkeit ist größer. Gottes Liebe und Barmherzigkeit ist unermesslich.

Wo wir sagen: verloren, sagt er: gefunden.

Wo wir sagen: verdammt, sagt er: gerettet.

Wo wir nein sagen, sagt er doch ja.

Das Kapitell von Vézelay zeigt uns im guten Hirten, der Judas auf seinen Schultern trägt, den unendlich barmherzigen Gott.

Heil und Erlösung werden für Judas nicht ausgeschlossen.

Judas ist in all seiner Tragik kein hoffnungsloser Fall.

Das hat etwas sehr Tröstliches und Hoffnungsvolles.

Kein Leben ist endgültig verpfuscht. Kein Mensch ist hoffnungslos verloren.

Das heißt allerdings nicht: „Es ist egal, wie du lebst und was du machst, am Ende wirst du doch gerettet. Wir kommen alle, alle in den Himmel.“

Judas und der gute Hirt sagen vielmehr: „Meint nicht, dass Gottes Liebe klein und begrenzt ist. Schließt nicht aus, dass mancher gerettet wird, von dem ihr es nicht erwartet. Gott ist groß im Verzeihen.“

Gott geht uns mit Sicherheit weiter nach, als wir uns vorstellen können. Und wenn es auch nur ein noch so kleines Zeichen von Reue und Umkehr gibt, wird Gott es sehen und entsprechend handeln.

Wie verloren das Schaf auch sein mag, der Hirt geht ausdauernd und geduldig, bis er es findet.

Gott geht ganz, ganz weit in seiner Liebe.

Der gute Hirt von Vézelay gibt allen Hoffnung, die sich in unheilvolle Geschichten verstrickt haben wie Judas.

Er gibt denen Hoffnung, die sich scheinbar rettungslos verirrt haben und als hoffnungslos verloren gelten.

Welches Glück, dass es die suchende Sorge des Hirten gibt!

Der gute Hirt ist Jesus Christus, der von sich selbst sagt, dass er gekommen ist, um zu suchen, was verloren war und zu heilen, was verwundet ist.

Der gute Hirt, Jesus Christus, wird uns finden, ganz bestimmt!

Ihm ist nichts zu viel, kein Weg zu weit. Er gibt sogar sein Leben hin für die Schafe. So ist Gott!

In Jesus Christus hat er alle Schuld der Welt auf sich genommen.

„Für euch und für alle“, sagt Jesus zu den Seinen im Abendmahlssaal.

Und beim letzten Abendmahl war auch Judas dabei!

Er wird jeder und jedem auch von uns ein gnädiger Richter sein, wenn sich unser irdisches Leben mit all seinen Verstrickungen vollendet hat.

Gottes Liebe aber ruft unsere Liebe. Jesu Herz ruft unser Herz.

Der gute Hirt sucht, ruft und braucht auch heute gute Hirten und Hirtinnen, die nicht verdammen, sondern retten; die suchen und heimholen, was als verloren erscheint; die nicht abschieben, sondern aufnehmen; nicht abschreiben, sondern annehmen; nicht verurteilen, sondern aufrichten; nicht ausschließen, sondern befreien und erlösen.

Und wenn wir selbst manchmal vielleicht mit uns hadern, weil wir mit einer Schuld nicht fertigwerden oder weil es uns immer wieder so schwer fällt, unseren Idealen treu zu bleiben, wenn wir auch in uns, die wir doch glauben möchten, noch so viel Verweigerung, Wut, Hass, Misstrauen wahrnehmen, dann gilt auch uns die Stimme des guten Hirten, die uns zuruft:

Wenn das Herz euch auch verurteilt, Gott ist größer als euer Herz und er weiß alles.

Und vielleicht beginnt das Vertrauen in uns zu wachsen, dass wir in allem, was wir zu tragen haben, selbst getragen sind. Und wir dürfen unser Herz in seiner Gegenwart beruhigen und uns bei ihm geborgen fühlen.